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Kriterien für die Aufsicht im Rundfunk und in den Telemedien /

Wirkungsfaktoren – Angebotsspezifische Wirkungsfaktoren

Wirkungsfaktoren

Angebotsspezifische Wirkungsfaktoren

Realitätsgrad

Der Realitätsgrad eines Angebotes ist ein wichtiger Indikator im Hinblick auf dessen ängstigende oder desorientierende Wirkung. Angebote, deren Inhalte real sind, Bezüge zur Realität herstellen oder real wirken, sowie jene, in denen die Übergänge zwischen Realität und Fiktion fließend sind, stellen unter Jugendschutzaspekten eine Herausforderung besonders für Kinder dar.

Insbesondere sind Angebote problematisch,

  • die fiktional sind, aber Realität suggerieren (z. B. Scripted Reality oder Doku-Soaps), indem sie mit dokumentarischen Techniken (z. B. Rückblenden, Befragungen von Zeug:innen, Expert:inneninterviews, Präsentationen von Beweismitteln) arbeiten und so eine PseudoSachlichkeit vermitteln,
  • die real sind (v. a. Boulevardberichterstattung), aber Darstellungstechniken fiktionaler Formate (z. B. Nachstellen von bestimmten Gewalthandlungen oder dramaturgische Hervorhebungen mittels Kameraeinstellung oder Musik) integrieren und somit eine hohe Emotionalisierung erzeugen und
  • die erkennbar fiktional, aber realitätsnah gestaltet sind (z. B. realistische Geschichte im Film oder realistische Grafik im OnlineSpiel) oder starke Bezüge zur Realität herstellen und so eine Übertragbarkeit der fiktionalen Handlung auf die reale Welt nahelegen (z. B. Katastrophen- bzw. Kriegssettings).

Erkennbar unrealistische Filmhandlungen oder unrealistische Settings in einer fantastischen Spielwelt bieten dagegen Distanzierungsmöglichkeiten, da sie weniger Anknüpfungspunkte an die Realität enthalten.

Alltagsnähe

Es ist davon auszugehen, dass problematische Inhalte, die einen engen Bezug zur Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen (Schule, Kindergarten, Familie, Freunde, körperliches Wohlbefinden, Tiere etc.) haben, eher eine negative Wirkung (Ängstigung, Verunsicherung) entfalten als jene, die ihren Alltag wenig tangieren. Bei Kindern und Jugendlichen, die solche Inhalte oft rezipieren (Vielseher), besteht die Gefahr, dass negative (z. B. angstbesetzte) Einstellungen gegenüber der Realität gefördert werden.

Grundstimmung

Die Grundstimmung eines Medienangebots beeinflusst, wie das Angebot insgesamt wahrgenommen und verarbeitet wird. Eine düstere, bedrohliche oder ausschließlich negative Grundstimmung kann ängstigend wirken bzw. die ängstigende oder desorientierende Wirkung der Medieninhalte verstärken.

Identifikationsanreize und lebensweltliche Orientierungsmuster

Besonders im Jugendalter verändert sich die Orientierung in Bezug auf Rollenbilder, da bestehende Muster hinterfragt und neue Identifikationsmodelle gesucht werden. Mediale Identifikationsfiguren können dabei Rollenmuster, Verhaltensweisen und Werte vermitteln, die von Jugendlichen als Orientierungshilfe genutzt werden und die sie in ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit beeinflussen können.

Bei der Bewertung eines Angebots sind die Figuren im Hinblick auf Identifikationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche zu beurteilen. Identifikationsmöglichkeiten können insbesondere bei positiv besetzten Figuren vorhanden sein, die einen hohen Attraktivitätsgrad aufweisen und in ihrer Rolle mögliche Vorbildfunktionen erfüllen. Die Figuren können dabei Identifikationsangebote liefern, die nicht statisch sein müssen, sondern im Handlungs- oder Nutzungsverlauf variieren, sich entwickeln und verändern können.

Identifikationsanreize beruhen unter anderem auf dem Geschlecht, Alter, Aussehen und Habitus einer Figur, ihren physischen und psychischen Fähigkeiten und Merkmalen, ihrem sozialen Status und ihrem biografischen Hintergrund.

Auch die vom jeweiligen Angebot vorgegebene Rezeptions- bzw. Interaktionsperspektive kann die Identifikation mit den Figuren und der Handlung befördern oder Distanz schaffen. Eine Außenperspektive kann einerseits Distanz schaffen und dadurch entlastend wirken, kann andererseits aber auch problematisch sein, da möglicherweise die Empathie, z. B. mit Opfern von Gewalthandlungen, eingeschränkt wird. Eine subjektive Kameraführung bzw. die Darstellung der Handlung aus der Ich-Perspektive sind zu problematisieren, wenn es sich dabei um eine Täterperspektive handelt, Distanz zum Geschehen dadurch nur schwer möglich ist oder wenn Allmachtsfantasien bei dem/der Rezipient:in bedient werden.

Identifikationsfördernd kann zudem eine kinder- bzw. jugendaffine Gestaltung der Angebote sein. Angebote sprechen Kinder und Jugendliche verstärkt an, wenn sie z. B.

  • Kinder oder Jugendliche als Protagonist:innen haben,
  • schwerpunktmäßig Themen der Selbstfindung behandeln,
  • die Abgrenzung zur Erwachsenenwelt betonen,
  • in spezielle Jugendszenen oder -kulturen eingebettet sind,
  • mit Humor dargeboten werden,
  • (vermeintlich) von Kindern oder Jugendlichen selbst erstellt wurden bzw. nicht- oder halb-professionell dargeboten werden,
  • in der Gestaltung auf die Wahrnehmungsfähigkeiten und Rezeptionsgewohnheiten jüngerer Nutzer:innen zugeschnitten sind.

Interaktivität

Von Interaktivität kann dann gesprochen werden, wenn ein Medium den Nutzer:innen einen Rückkanal zur Verfügung stellt, damit diese mit anderen Nutzer:innen kommunizieren oder mithilfe von integrierten Handlungsoptionen das Geschehen beeinflussen können. Interaktivität spielt insbesondere in Telemedien wie sozialen Netzwerken und OnlineSpielen eine Rolle.

Zu den mit Interaktivität verbundenen Risiken gehört u. a. die Möglichkeit, mit anderen Nutzer:innen (insbesondere unmoderiert) zu kommunizieren: Sie können mit Beleidigungen, Beschimpfungen, Diffamierungen und Erniedrigungen oder mit Hatespeech konfrontiert werden oder von diesen direkt betroffen sein. Ein weiteres Risiko birgt die Möglichkeit sogenannten „User Generated Content“ ungefiltert einzustellen, da so jugendschutzrelevante Inhalte ohne vorgeschalteten Kontrollmechanismus veröffentlicht werden können. Massive psychische Belastung kann bei Kindern und Jugendlichen die Folge sein.

Eine beeinträchtigende oder gefährdende Wirkung kann auch die Nutzung von Handlungsoptionen in Online-Spielen haben, wie die Ausführung brutaler Gewalthandlungen, kriminelles Agieren oder das Treffen moralisch nicht vertretbarer Entscheidungen. Wird ein solches Handeln zusätzlich belohnt, steigt das Beeinträchtigungs- bzw. Gefährdungspotenzial. Hoher Zeitdruck kann verhindern, dass Nutzer:innen die Handlungen ausreichend reflektieren und sich vom Geschehen distanzieren können.

Je höher der Interaktivitätsgrad, umso größer kann die Wirkung des Medienangebotes sein. Auf inhaltlicher Ebene kann der Umfang der Handlungsoptionen zu einem hohen Interaktivitätsgrad beitragen. So ist beispielsweise zu unterscheiden, ob sich Nutzer:innen bei der Rezeption eines 360°-Videos auf das Umherblicken beschränken müssen oder in der Lage sind, in einer komplexen virtuellen Welt mit Gegenständen und Charakteren zu interagieren. Auf technischer Ebene kann eine realitätsnahe Umsetzung der Handlungsoptionen zu einem höheren Interaktivitätsgrad und damit zu einer größeren Wirkung führen. Das Zielen und Schießen mithilfe eines Motion-Controllers ist z. B. eine realitätsnähere Alternative zum klassischen Gamecontroller.

Immersion

Immersion bezeichnet das wahrnehmungsbezogene Eintauchen in eine medial vermittelte Welt, während das eigentliche Umfeld kognitiv ausgeblendet wird. Je höher das Immersionserleben, umso größer kann die Wirkung des Angebotes sein. Angebotsspezifische Elemente dieser Art können z. B. ein glaubwürdiges Setting, eine hochauflösende Darstellung, anspruchsvolle Grafik, Feedback-Elemente (z. B. Vibration) oder ein hoher Interaktivitätsgrad sein.

Ein besonders hoher Grad an Immersion besteht in der Virtual Reality (VR). Zum einen führen die in der VR üblichen realitätsnahen Interaktionen zu einem stärkeren Immersionspotenzial. VR-Inhalte werden üblicherweise mittels eines VR-Headsets rezipiert, welches das Umschauen mit natürlichen Kopfbewegungen in der medial vermittelten Welt ermöglicht – genauso, wie es Nutzer:innen aus der Realität gewohnt sind. Zum anderen stellt das VR-Headset die mediale Welt stereoskopisch dar. Gleichzeitig schirmt es Nutzer:innen von der eigentlichen Umwelt ab. Insgesamt entsteht so der Eindruck, dass sie von der medialen Welt umgeben sind. Im Extremfall nehmen sie die Medieninhalte im Moment der Rezeption als primären Handlungsrahmen an. Die für die kognitive und emotionale Verarbeitung erforderliche Distanzierung zum Spielgeschehen wird damit erheblich erschwert. VR kann so aufgrund des stark erhöhten Immersionspotenzials eine außergewöhnlich starke Wirkung – insbesondere auf der affektiven Ebene – haben. 
Gewalthaltige oder ängstigende Medieninhalte, die negative Emotionen wie Angst, Panik oder Aggressivität auslösen können, sollten daher besondere Beachtung finden.